Ist grenzenloser Raum Freiheit?

Zum grenzenlosen Raum habe ich persönlich ein ambivalentes Verhältnis. Zum Einen war es immer meine Sehnsucht Weite in den Blick zu kriegen – Landschaften mit Horizont zu sehen. Viel Himmel verhieß viel Freiheit. Natur so weit das Auge reicht versprach die Abwesenheit von menschlichen Problemen wie Hektik, Stress und Streit.
Ich liebe es weit zu denken, sich viele Möglichkeiten zu erlauben und Vielschichtigkeit sowie Unterschiedlichkeit als etwas größeres Ganzes zusammenzudenken.

Auf der anderen Seite führen meine vielfältigen Interessen und die Idee von „alles ist möglich“  im Alltag oft zu einem grenzenlosem Abarbeiten von ToDo-Listen.  Das bringt eine Struktur- und Ziellosigkeit mit sich, die anstrengend ist. Inzwischen weiß ich, daß dies eine Folge meiner antiautoritären Erziehung ist. Die gutgemeinte Freiheit, die mir meine Eltern in den 70er Jahren geben wollten, war ein grenzenloser Raum, in dem alles möglich war, ich aber wenig Erfahrungen machen konnte, wie sich Rhythmus und Fokussierung auf das Wichtige und Wesentliche anfühlen. Wenn diese Seite im Alltag die Oberhand gewinnt, dann wird meine ToDo-Liste länger und länger und ich fühle mich für sehr viel verantwortlich. Ich gerate in Stress, weil dieses oder jenes so lange dauert, weil noch nicht alles fertig ist. Ich glaube, daß ich die Dinge alle selbst tun muss und wenig davon abgeben kann. 

Wer für alles offen ist, ist nicht ganz dicht!

Volksmund

Viele Beratungssitzungen und die Arbeit mit den Pferden im Hier & Jetzt mit einer einzigen ! klaren Aufgabe haben mich gelehrt, wie sehr meine Kindheit einerseits Grenzenlosigkeit aufwies und andererseits darauf ausgerichtet war, möglichst ganz viel ganz schnell zu schaffen.*

Was ist, wenn es gar keinen grenzenlosen Raum braucht um frei zu sein, sondern das Gegenteil? Einen abgegrenzten Raum, in dem erst die Freiheit entsteht, fertig zu sein, nichts zu tun, im Einklang mit sich anstatt der Aufgaben oder Ansprüche zu sein?

Kindheit ist so ein Frei-Raum, der nur entsteht, wenn Eltern liebevoll begrenzende Strukturen schaffen, in denen das Kind geborgen ist. Das bedeutet im Gegensatz zu meiner „Laissez Faire“ Kindheit, daß nicht alles möglich ist, sondern daß es einen Rahmen gibt, dieser schafft Orientierung und Freiraum darinnen! Aber in diesem begrenzten Raum gibt es entspanntes Sein – und das ist gesünder als alle Möglichkeiten zu haben – das kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen. Deswegen brauchen Kinder Grenzen. Keine absoluten und abstrakten, sondern die persönlichen Grenzen ihrer Eltern. 

Wo wir gerade bei Kindheit und Freiheit sind: Das wichtigste Bedürfnis des Kindes ist nicht frei zu sein, sondern in Kontakt mit seinen Eltern zu sein – wir sind soziale Herdentiere. Das „im Kontakt sein“ ohne daß die eigenen Integrität beschädigt wird, daß ist unser aller Ur-Bedürfnis. Und obwohl alle Eltern ihre Kinder lieben, gelingt es nicht allen in diesem echten Kontakt mit ihren Kindern zu sein.
Ich glaube, erst wenn dieses Bedürfnis nach tiefem Kontakt vielfach enttäuscht wird – und das passiert leider in den meisten Familien, lernen wir nach Ersatz im Außen zu suchen: Die Freiheit da draußen, der Kick des Abenteuers, der Rausch oder die absolute Kontrolle. Oder wir verkriechen uns tief im Inneren – beide Varianten sind möglich. Wenn wir sehr viel menschliche Gewalt in Beziehungen erfahren haben bzw. unsere Integrität immer wieder verletzt wurde, dann kann unter Umständen daraus die Sehnsucht nach dem menschenleeren Raum entstehen, der Frieden & Freiheit verspricht.

snoerre

Früher dachte ich, Freiheit ist der grenzenlose Raum außen.
Heute weiss ich, Freiheit ist, für alles in mir Raum zu finden.
Freiheit ist meinen eigenen Rhythmus und
meine eigenen Grenzen zu finden.

Katrin Paul – beziehungskompetent.de

Nochmal zurück zu dem Ideal der Leistungsgesellschaft, gaaanz viel gaaanz schnell zu schaffen. Kommt das jemand bekannt vor? Könnte es sein, daß unser Schulsystem immer noch genau von dieser Idee beseelt ist, wie man in 10 oder 12 Jahren Schule möglichst schnell ganz viel Wissen „schaffen“ kann?

Lehrer*innen mühen sich, den Lehrplan in die Schulzeit zu quetschen – der Druck ist enorm. Eigentlich ist es gar nicht zu schaffen. Und schon gar nicht, wenn wir individuelle Lernrhythmen der Kinder beachten und respektieren würden! Und nun, wo wir durch Corona so einfach aus diesem eh schon unmenschlichen Takt des ganz viel Lernens in kurzer Zeit gekommen sind, nun diskutieren wir allen Ernstes darüber, wie die Kinder es so schnell wie möglich aufholen und nachholen könnten. Anstatt genau jetzt den idealen Zeitpunkt zu sehen, uns auf individuelle Lernwege der Kinder einzulassen! Ich wünschte mir, daß Bildungsverantwortliche genau jetzt den Sprung in ein neues Bildungssystem wagen, anstatt das alte, eh nicht funktionierende System nun noch krampfhafter aufrechtzuerhalten!

Die Idee des verbindlichen, unbedingt zu schaffenden Lehrplans in einer bestimmten Zeit ist an sich übergriffig und mit der Integrität von Schüler*innen gar nicht vereinbar. Nach meiner Einschätzung herrscht in traditionellen Schulen immer noch eine Art von grenzenloser Fremdbestimmung. Der pädagogische Fachbegriff „Integrität“ von Jesper Juul ist den meisten Lehrkräften weder vertraut noch gar handlungsleitend im Alltag!

Nur wenige Schulen trauen sich diese Muster fehlender persönlicher Grenzen auf allen Seiten zu durchbrechen und auf kindliche Entwicklungskompetenz, Individualität und Lerncoaching zu setzen. Trauen sich „weniger zu schaffen“ und „weniger Bulimiewissen“ zu vermitteln! Nur wenige Schulteams üben sich selbst in der Wahrnehmung von persönlichen Grenzen und integrem Handeln – genau das braucht es aber viel flächendeckender, wenn wir eine neue Pädagogik, eine neue Beziehungskultur im Schulalltag wollen.

Es wäre eine unglaubliche Befreiung für Lehrer*innen und Schüler*innen, wenn jedes Kind die Freiheit in der Schule finden würde, ganz so zu sein, wie es ist – so schnell oder so langsam und sehr indiviudell in seinen Kompetenzen! Begrenzung auf eine Begleitung der Schüler*innen ohne Unter- und Überforderung – kann Freiheit bringen, die uns jetzt noch fast unvorstellbar im Schulsystem erscheint.

Es ist doch ein unglaublicher Widerspruch, daß wir zuerst Schüler*innen darauf trimmen fremdbestimmt zu funktionieren, um sie dann ab 40 Jahre in die Therapie mit Burnout zu schicken und genau das zu üben, was bisher verpönt war: Wie finde ich meinen Rhythmus? Welcher nöchste Schritt ist für mich stimmig? Was überfordert mich? Wie setze ich persönliche Grenzen? Wie passe ich die Aufgaben an meine Kompetenzen an und nicht mich an die Aufgaben? Wie erhalte ich langfristig meine Gesundheit und Leistungsfähigkeit?

Der Weise lebt still inmitten der Welt,
sein Herz ist ein offener Raum.
Laotse

So habe ich also erst mit den Jahren gelernt, daß für mich in der Begrenzung die „Freiheit zu sein“ liegt. Das mit der Begrenzung von Aufgaben oder Zuständigkeiten habe ich leider als Kind nicht lernen dürfen – deswegen brauche ich jetzt immer sehr viel Aufmerksamkeit und Bewußtheit, um an diesem Punkt nicht in vertraute Kindheitsmuster abzurutschen.

Was hilft mir? Ich persönlich pflege ein Onlineboard mit allen Aufgaben, da ich ein sehr komplexes Unternehmen führe und mache mir täglich eine 6 -Punkte-Liste für den Tag. Davon sind Platz 1 und 2 für die grossen, meist ungeliebten Aufgaben reserviert. Der Rest der Liste füllt sich mit machbarem Kleinkram. Und der Rest des Tages füllt sich mit dem, was spontan kommt und mir vorher gar nicht in den Sinn kam. 
Die größte Gefahr ist es, an der langen Emailliste hängenzubleiben oder gleich dort den Fokus zu verlieren! Deswegen kommt das Mailprogramm lieber am Ende der Bürozeit dran und dann auf die Erledigenliste. So kann ich am nächsten Morgen wieder gut entscheiden, was ich heute tun will!

Mir hilft diese Begrenzung der unendlichen, grenzenlosen Aufgaben auf das menschlich Machbare (oder für mich machbare)  sehr. So nehme ich meine persönlichen Grenzen ernst !

Es entspannt mich, es hilft mir, das Gefühl zu haben, etwas erledigt zu haben, obwohl noch so viele Dinge auf Erledigung warten.

Passend zum Thema bin ich auf dieses Video über die Grenzenlosigkeit aus mathematischer Sicht gestoßen. Hilberts Hotel ist ein sehr amüsantes Gedankenexperiment und es hilft Dir zu verstehen, warum der alte Leitsatz unserer Großeltern „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen“ nur funktioniert, wenn wir vorher die Arbeit begrenzen und jeden kleinen Schritt würdigen! Denn mit der Arbeit ist es wie in Hilberts Hotel mit den Zimmern – wir haben unendlich viel davon auf der Liste unserer Möglichkeiten und Dringlichkeiten – und wenn wir warten würden, bis wir die abgearbeitet haben, können wir NIE Pause machen oder das „Fertig“ -Gefühl bekommen.

Wenn Du Lust hast auf Deine eigene fachpersönliche Forschungsreise zum Thema Raum, Grenzen und Führungskomeptenz – dann bist Du herzlich eingeladen zu unseren Workshops Ich & Du – Räume & Grenzen sowie Respektvoll Führen. Übrings bieten wir zum ersten Mal ein Aufbau Workshop Respektvoll Führen an, für alle, die an ihren individuellen Themen im Bereich Respektvoll Führen weiterarbeiten wollen.

Live auf dem Mirabellenhof

kostenlose Kurzberatung

Beratung +++ Supervision +++ Coaching +++ Fortbildung

Live auf dem Mirabellenhof