Die Seele geht in den meisten Organisationen verloren

Ich erinnere mich an eine Erzieherin, der in einem Workshop zu Beziehungskompetenz langsam klar wurde, wie gewalttätig das Verhalten ihrer Vorgesetzten war. In gewisser Weise gewöhnen wir uns an sprachliche Herabsetzungen oder respektlose Behandlungen, weil sie in einigen Einrichtungen zu alltäglich und zu „normal“ werden.

Zum Thema „alltägliche Gewalt in normalen Kitas und Schulen durch Sprache und scheinbar harmloses Verhalten“ hat mich diese Passage aus dem Buch von Laloux besonders berührt:

 

„Park Palmer, Pädagoge, Autor und Aktivist hat sein ganzes Leben erforscht, was nötig ist, damit wir in einer Gemeinschaft die Ganzheit suchen und finden können.

Welcher Raum eröffnet die beste Möglichkeit, um die Wahrheit unserer Seele zu hören und ihr zu folgen? … Meine Antwort schöpft aus einer einzigen Metapher, die für mich die Essenz der Seele reflektiert und gleichzeitig ihr Geheimnis würdigt: die Seele ist wie ein wildes Tier.

So wie ein wildes Tier ist die Seele stark, widerstandsfähig, klug, neugierig und unabhängig: Sie weiß, wie sie in einer schwierigen Umgebung überleben kann. Viele von uns lernen diese Eigenschaft in den dunkelsten Stunden unseres Lebens kennen, wenn die Fähigkeiten , auf die wir uns normalerweise verlassen, nicht mehr ausreichen – der Intellekt ist nutzlos, die Emotionen abgestorben, der Wille ohnmächtig und das Ego zerstört. Manchmal spüren wir tief im Dickicht unseres inneren Lebens die Anwesenheit von etwas, das weiß, wie es weiterleben kann, und uns hilft, weiterzugehen. Dieses Etwas, so meine ich, ist die starke und beharrliche Seele.

Aber trotz dieser Stärke ist die Seele auch scheu. Wie ein wildes Tier sucht sie Sicherheit im dichten Unterholz, besonders wenn andere Menschen in der Nähe sind. Wenn wir ein wildes Tier sehen wollen, dann wissen wir, dass wir auf keinen Fall durch den Wald rennen nach ihm rufen sollten. Aber wenn wir leise in den Wald laufen und uns geduldig unter einen Baum setzen, im Einklang mit der Erde atmen und uns mit der Umgebung verbinden, wird das wilde Tier, das wir suchen, vielleicht erscheinen. …

Leider bedeutet Gemeinschaft in unserer Kultur oft eine Gruppe von Menschen, die zusammen durch den Wald rennen und die Seele verscheuchen. … Unter diesen Umständen erscheinen der Intellekt, die Emotionen, der Wille und das Ego, aber nicht die Seele; wir verscheuchen all das worin die Seele lebt: respektvolle Beziehungen, Wohlwollen und Hoffnung.

In Organisationen gleicht unser Zusammensein oft auch dem „Rennen durch den Wald“. Um die Seele zu verscheuchen, genügt schon ein sarkastischer Kommentar, ein Rollen mit den Augen während einer Besprechung. Wenn wir unser ganzes Selbst einladen wollen, sich zu zeigen, einschließlich der scheuen inneren Stimme der Seele, dann müssen wir am Arbeitsplatz sichere und fürsorgliche Räume schaffen. Wir müssen lernen, achtsam wahrzunehmen, wie unsere Worte und unser Handeln subtil dazu beitragen können, in einer Gemeinschaft von Kollegen die Sicherheit und das Vertrauen zu schwächen.“

 

Frederic Laloux, Reinventing Organizations, Ein Leitfaden zur Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit, Verlag Franz Vahlen München, 2015, S. 148

Katrin Paul – beziehungskompetent in Kita & Schule